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Die Geheimnisse tibetischer Wandmalereien

07.03.2019 03:22:37 | Cornelia Wahl

Virupas BotschaftSie vermitteln die buddhistische Praxis der Achtsamkeit, des Mitgefühls und der Weisheit. Seit vielen Jahrhunderten zeigen sie unzähligen verschiedenen Menschen einen gemeinsamen Weg auf. Und doch sind sie wie die Kultur des Landes vom nicht freiwilligen Niedergang bedroht: Wandmalereien in Tibet.

Ein Mann, nackt, gut gebaut, mit gelocktem schwarzem Haar, die Augen weit geöffnet, reich geschmückt mit Blumen und Juwelen, um den Hals eine Kette, seine Sitzhaltung prägnant. In der linken Hand hält er eine Schädelschale, gefüllt mit Nektar und Alkohol. Um ihn herum stehen viele weitere Flaschen, die auf ein Trinkgelage schließen lassen. Dazu ein Wirt, der zu zweifeln scheint, ob der Mann wohl seine Zeche bezahlt. Dies ist eine von vielen hunderten Szenen, wie sie auf kostbaren, teils geheimen riesigen Wandmalereien in Tibets Klöstern und Tempeln zu sehen ist. Über viele Jahrhunderte hinweg erschufen die Tibeter Wandmalereien, um die Praxis der Achtsamkeit, des Mitgefühls, der Weisheit und weiterer Ideale des Buddhismus zu vermitteln. Über all diese Zeit haben die Gemälde viele unterschiedliche Menschen inspiriert und ihnen einen gemeinsamen Weg aufgezeigt. Jedes Bild erzählt seine eigene Geschichte dieser für uns geheimnisvollen Kultur, die mit ihrer Weisheitslehre als eine Art Code für die Entschlüsselung unserer heutigen Probleme verstanden werden kann.

Zerstörung jahrhunderte Jahre alter Kulturschätze

Viele dieser einzigartigen Kunstschätze, die bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgt werden können, gibt es heute nicht mehr. Seit der Annexion Tibets durch China, die im Jahr 1949 im nordöstlich gelegenen Amdo mit dem Eindringen erster chinesischer Truppen ihren Anfang nimmt, im Jahr 1951 unter Zwang das Ende der Souveränität Tibets markiert, im März 1959 mit der Flucht des 14. Dalai Lama ins indische Exil nach Dharamsala und mit dem Tod von Zigtausenden Tibetern einen blutigen Höhepunkt findet - in dieser Zeit sind annähernd 6000 Klöster und Tempel zerstört worden. Und mit ihnen verschwanden für die Tibeter so wichtige kulturelle Bildungs- und Begegnungsstätten für immer. Die in den übrig gebliebenen Kloster- und Tempelanlagen bis jetzt noch bestehende Wandgemälde sind dem Zahn der Zeit ausgesetzt. Dazu machen Erdbeben oder starke Regenfälle den Bauwerken in Tibet schwer zu schaffen. Marode Dächer und rissige Wände bereiten der Feuchtigkeit den Weg, den uralten Gebilden zusehends zuzusetzen.

Wimmelbilder voller Symbolik

Was für unseren Kulturkreis aussieht, als wären es Wimmelbilder, steckt voller Symbolik. Meist zieht zuerst eine große und zentral platzierte Buddha-Figur die Augen auf sich. Um sie herum sind deutlich kleiner viele verschiedene Szenen mit Menschen, Tieren, Gegenständen oder Mandalas angeordnet. Die Wandbilder zeigen Buddhas in verschiedenen Seins-Zuständen, friedvolle oder zornvolle Gottheiten, Posen des Tantra, Yogis beim Meditieren, Tiere oder Mandalas. Ihre Motive der unterschiedlichen Zeitepochen sind so vielfältig, wie die tibetische Kultur selbst. Häufig sind Visualisierungen abgebildet, wie sie in der Meditation verwendet werden. Oft sind es auch historische Begebenheiten aus dem Leben Buddhas sowie anderer buddhistischer Lehrerinnen und Lehrer. Stets geht es dabei darum, wie Herz und Geist geöffnet werden können, um Verblendung, Gier und Hass zu transzendieren, um die eigene Buddha-Natur zu erkennen. Je länger die Augen sich auf Entdeckungsreise begeben, umso mehr erwacht ihre Faszination. Wandmalereien sind auf dem Dach der Welt eine Hauptform der Kunst und ein wichtiger Bestandteil der Wissensvermittlung. Sie bringen in anschaulicher und konzentrierter Weise buddhistische Weisheiten näher. Ausführliche und fundierte Literatur informiert über ihre Symbolik. Wenn es um Inhalte geht, wird es jedoch komplizierter, sie zu identifizieren und in einen historischen und inhaltlichen Kontext zu bringen.

Ursprung der Gemälde liegt in Indien

Ihren Ursprung haben die Wandmalereien in der indischen Kultur, auch wenn erste Darstellungen des Buddha Shakyamuni als Bild oder Statue durch die griechische Kunst inspiriert worden sind. Zuvor wurde er symbolisch etwa durch eine Flamme, das Dharma-Rad oder einen Baum dargestellt. Ein immer wiederkehrendes Motiv in den tibetischen Wandgemälden sind Mandalas als Teil der tantrischen Visualisierungspraxis und als Darstellung der reinen Dimension eines Buddhas. Mit ihrer viereckigen Struktur zeigen sie einen Palast von oben, in denen die Buddhas visualisiert werden. Die Buddhas symbolisieren den göttlichen Zustand des Praktizierenden. Mandalas kommunizieren essenzielle Inhalte, die auf dem Weg der Befreiung vom Leiden ein Teil der tantrischen Methodik sind.

Fertigstellung dauerte oft Jahre

Als Unterbau für ihre Gemälde diente den Künstlern ein trockener Untergrund, eine Art mehrschichtiger Lehmputz. Um eine möglichst glatte Oberfläche zu bekommen, wurde sie meist mit Kaolin, Kreide, Gips oder anderen beständigen Materialien hergestellt. Für die Anordnung der Motive machten sie Vorstudien mit geometrischer Strukturierung. Die Mandalas richteten sie mit Hilfe von Kompassen aus. Bevor die Figuren präzise Konturen, meist in Schwarz, erhielten, fertigten die Maler grobe Skizzen an. Bei wiederkehrenden Motiven behalfen sie sich manchmal mit Schablonen. Zum Ausmalen der unterschiedlichen Ornamente und Figuren entwickelten sie der Einfachheit halber eine Art „Malen nach Zahlen“: Sie setzten Farbcodes ein. Die Farben selbst sind aus Mineralien hergestellt und wurden zuvor mit weißem Kalk vorbereitet. Bis ein einziges dieser riesigen, beeindruckenden Gemälde fertig war, konnte es Jahre dauern. Das zentrale Motiv war Sache des Hauptmeisters, während die Gesellen die Szenen drumherum malten.  

Virupas Botschaft an die Welt

Der oben erwähnte Bildausschnitt erzählt von Virupa, einem von 84 großen Meister und Meisterinnen (Mahasiddha), der auf seinem spirituellen Weg in einer Taverne Rast macht. Der Yogin bestellt zu essen und zu trinken, immer und immer wieder. Dem Wirt ist nicht wohl bei der Sache. Er ist sich nicht sicher, ob Virupa ein Heiliger oder ein Betrüger ist. Je mehr Virupa isst und trinkt, umso mehr wird der Wirt nervös. Er bittet den Yogin, seine Rechnung zu begleichen. Virupa verspricht, die Rechnung zu bezahlen, wenn die Sonne eine zuvor auf den Boden gezeichnete Linie erreiche. Dann hebt er seinen Arm, zeigt auf die Sonne und stoppt deren Lauf. Virupa hat einen ziemlichen Durst, trinkt munter weiter. Die Sonne aber bleibt hoch am Himmel stehen. Mit der Zeit beginnen Menschen und Natur unter der drückenden Hitze zu leiden. Die Ernte ist gefährdet. Der König erkennt, dass etwas nicht stimmen kann und führt es auf die Macht des Yogin zurück. In Sorge um seine Landsleute und um die Ernte entscheidet er, dem Wirt die Zeche zu bezahlen. Daraufhin ist Virupa zufrieden und gibt die Sonne frei. Die Geschichte von Virupa kann zweifelsohne als ein Fingerzeig an die Welt von heute verstanden werden: Der Mensch entscheidet selbst über die Folgen seiner Handlungen. Er hat es in der Hand, ob er sich von Geiz, Gier, Hass, Hochmut, Neid, Unwissenheit, Wollust und Wut leiten lässt, oder ob er bedächtig handelt und spricht, um den Pfad der Weisheit zu gehen.

Wer sich für die Wandmalereien Tibets interessiert, findet diese Szene und hunderte weitere in dem Buch „Murals of Tibet“, das im Tibethaus in Frankfurt am Main nach vorheriger Anmeldung besichtigt werden kann. 

Bilder: © @uto-motor-info