„Der Ansatz, auf die jüngste Generation einzuwirken, ist einfach nur brutal“

07.08.2023 07:07:07 | Cornelia Wahl

Tenzyn Zöchbauer, die Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland e.V. über die aktuelle Lage in Tibet.

Tibet, das Land in Zentralasien war von 1912 bis 1951 ein unabhängiger Staat auf dem tibetischen Hochland. Dort entspringen alle großen Flüsse Asiens, die mehrere Milliarden Menschen mit Trinkwasser versorgen. Tibet verfügt über zahlreiche Bodenschätze.

Chinas Griff nach Tibet

Bereits im zweiten Weltkrieg strebte China danach, Tibet unter seine Kontrolle zu bringen. Diese Bestrebung fand einen ersten Höhepunkt im Jahr 1950, als im Oktober die Volksbefreiungsarmee Chinas in Richtung Tibet vordrang. Unter massivem Druck unterschrieb eine tibetische Delegation das Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets. Dies erlaubte es der chinesischen Regierung fortan, Truppen in Tibet zu stationieren und die tibetische Außenpolitik zu kontrollieren, dennoch sicherte man Tibet innere Autonomie zu.

Zunächst blieb das politische System in Tibet auch unangetastet. Allerdings begann in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die chinesische Führung damit, in Tibet eigene Verwaltungsstrukturen auf-, die Infrastruktur nach seinen Vorstellungen auszubauen und eine Landesreform zu starten. Dies gipfelte am 10. März 1959 im Tibet-Aufstand. Zehntausende Tibeter, versammelten sich in Lhasa und forderten den Rückzug der chinesischen Truppen und den Schutz des politischen und geistigen Oberhaupts, dem Dalai Lama. Der Protest endete in einem blutigen Massaker und dem 14. Dalai Lama blieb nur die Flucht nach Indien ins Exil. Das chinesische Regime übernahm alle Regierungsfunktionen Tibets. Im Jahr 1965 band China Tibet als Autonomes Gebiet vollständig in seine Administration ein und die Leidensgeschichte für das tibetische Volk nahm ihren Lauf.

Die Missachtung der Menschenrechte im Detail

In diesen sieben Jahrzehnten hat die chinesische Regierung ihren schon massiven Druck auf die tibetische Bevölkerung weiter verstärkt. Wer ein Bild des Dalai Lama bei sich trägt oder gegen die Maßnahmen des Regimes protestiert, sich gegen Umerziehungsmaßnahmen sperrt oder gegen die Zerstörung von Klöstern stellt, muss damit rechnen, inhaftiert, gefoltert oder gar vergewaltigt zu werden – von den errichteten Überwachungsstrukturen auch innerhalb der Familien ganz zu schweigen.

Mittlerweile haben diese Unterdrückungsmaßnahmen eine weitere Stufe erreicht: „Was wir beobachten können, ist, dass die Einschränkungen immer massiver werden und sich wenig verbessert hat. Viele der Einschüchterungsmechanismen sind jetzt auch subtiler, als es früher der Fall war. Es ist nicht mehr nur Haft und Gefängnis“, sagt Tenzyn Zöchbauer, die Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland e.V., einer Nichtregierungsorganisation, im Gespräch. „Die Bewegungs-, Meinungs- und Kommunikationsfreiheit sind immer noch sehr stark eingeschränkt. Die Menschen in Tibet besitzen meistens keine Pässe und können deshalb auch nicht reisen“, erzählt sie. Umgekehrt gebe es keine Möglichkeit, als Einzelperson von außen nach Tibet zu reisen. Das sei nur möglich in geführten Touristengruppen. Somit sei ein individueller Austausch weder von Tibet noch nach Tibet möglich, auch weil die Kommunikation immer überwacht werde. Personen, die Informationen aus Tibet herausschmuggeln, müssen damit rechnen, dass sie verhaftet werden, da die chinesische Regierung dies als illegal ansieht.

Tibetische Kinder werden ihren Eltern weggenommen

Wie sehr China daran interessiert ist, die tibetische Kultur verschwinden zu lassen, sieht man an den jüngsten Maßnahmen: Seit Xi Jinping an der Macht ist, etabliert sich immer mehr, dass tibetische Kinder im Alter ab vier Jahren von ihren Eltern getrennt und in Zwangsinternate gesteckt werden, „so dass es in der Autonomen Region Tibet fast keine privaten Schulen oder auch Klosterschulen mehr gibt. Das ist in Tibet inzwischen verboten“, sagt Tenzyn Zöchbauer. „Wir sprechen hier von etwa einer Million tibetischer Kinder im Alter von vier bis 18 Jahren, die inzwischen nicht mehr zu Hause leben, und auch nicht mehr im Umfeld ihrer Eltern ausgebildet werden. In diesen Internaten weit weg von Städten leben die Kinder über Monate hinweg. Das hat natürlich einen massiven Einfluss auf die Identitäts- und Persönlichkeitsbildung sowie auf den Erhalt der tibetischen Kultur. Die Eltern haben keinerlei Freiheit mehr selbst über die Bildung ihrer Kinder zu entscheiden.“, so Tenzyn Zöchbauer. Das sei wohl auch eine Folge, weil die Kommunistische Partei daran scheitere, die Tibeterinnen und Tibeter gehorsam zu machen.

Dramatisch: Die Entfremdung der Kinder von ihren Angehörigen

Lange Zeit habe die kommunistische Partei, die Politik „ein Land, zwei Systeme“ vertreten, nicht nur mit Tibet, sondern auch mit Hongkong oder anderen Minderheiten. Der Erhalt der Minderheiten sei der chinesischen Politik eine Zeit lang durchaus wichtig gewesen. Jetzt merke man jedoch, dass dies nicht mehr der Fall ist. „Diese kulturelle Eingliederung ist meiner Meinung nach in Tibet besonders schwer umzusetzen, da die kulturellen Unterschiede zwischen dem tibetischen Volk und China sehr hoch sind. Der Ansatz, auf die jüngste Generation einzuwirken, ist einfach nur brutal. Denn in diesen Internaten sind die Kinder von allen Einflüssen abgeschottet. Wenn diese nach Monaten für die Ferien nach Hause kommen, sprechen sie teilweise nicht mehr gut tibetisch und können sich mit ihren tibetischen Großeltern, die vielleicht kein Chinesisch sprechen, nicht mehr austauschen. Oder sie verlieren das Gefühl für die tibetische Identität, weil sie im Alltag die Traditionen nicht mehr miterleben. Dies hat auf Dauer massive Auswirkungen auf die Gesellschaft. Deswegen ist es uns ein großes Anliegen, dieses Thema international anzusprechen und den Schutz dieser Kinder, da geht es sowohl um Kinder- aber auch um Elternrechte, zu fordern“, sagt sie. Die kommunistische Partei argumentiere damit, dass das Bildungslevel in Tibet sehr niedrig sei. Durch diese Maßnahmen solle sich der Bildungsgrad verbessern. Allerdings müsse man hier im Hinterkopf behalten, dass über Jahrzehnte Chinas Strategie darauf ausgelegt war, die tibetische Gemeinschaft möglichst ungebildet zu lassen.

Nomaden werden sesshaft gemacht

Doch nicht nur die Kinder sind von solchen stark lebensverändernden und massiven Eingriffen betroffen, sondern auch das Nomadentum, eine traditionell tibetische Lebensform, welche das Chinesische Regime unter seine Kontrolle bringen will. Dafür werden Nomadinnen und Nomaden in dafür angelegten Siedlungen sesshaft gemacht, die ziemlich traurig aussehen. „Das sind meistens kleine Hütten, in denen die Menschen einen Großteil ihrer Zeit verbringen müssen. Sie haben die Möglichkeit über gewisse Monate mit ihrer Herde an verschiedene Orte zu gehen. Das muss dann registriert werden und wird genau beobachtet. Es gibt auch viele Nomaden, die dazu gezwungen wurden, das Nomadentum aufzugeben und einer normalen Arbeit nachzukommen. Wir bekommen manchmal Nachrichten, wie verzweifelt diese Menschen sind“, erzählt Tenzyn Zöchbauer. Auf Grund der geografischen Gegebenheiten des Hochlandes jedoch sind nicht alle Nomaden erreichbar und so gibt es immer noch eine Handvoll Nomaden, die auf ihre klassische Art und Weise diese Lebensform erhalten.

Spionage innerhalb von Familien

Überhaupt ist die Überwachung in Tibet universell und allgegenwärtig: Kamerasysteme und Checkpoints, an denen regelmäßig kontrolliert wird. Inzwischen leben viele Chinesinnen und Chinesen in Tibet, gerade seitdem diese Zugstrecke von Lhasa nach Peking gebaut wurde, würden es immer mehr werden. „Auch innerhalb der Familien findet eine Überwachung statt. Ob es nun chinesische Familienmitglieder oder die Nachbarn sind, die genauer hinhören, hinsehen. Inzwischen werden auch die Kinder, welche in den Zwangsinteranten politisch indoktriniert werden, dafür genutzt. Und da wird auch ganz klar gesagt, ‚wenn deine Eltern das und das zuhause sagen, machen oder tun, dann ist das gegen unser System und das muss gemeldet werden‛. Da findet wirklich auch Spionage und Überwachung in den Familien statt. Die Menschen in Tibet haben nahezu keine Möglichkeit sich überhaupt noch frei auszutauschen oder ein Kollektiv zu bilden. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum es heute in Tibet keine große Massenbewegung gibt, sondern nur hauptsächlich einzelne Proteste“, sagt die Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland e.V. „Immer, wenn ich von diesen Einzelprotesten aus Tibet höre, bewundere ich den Mut dieser Menschen. Denn dies sind wirklich Einzelpersonen, die sich dazu entscheiden, die Stimme für viele zu sein. Und die Konsequenzen für ihr Volk direkt zu tragen.“

Über die Sicherheit von Tibeterinnen und Tibeter außerhalb Tibets

Tenzyn Zöchbauer selbst fühlt sich in Deutschland relativ sicher, auch weil sie keine Familie hat, die aktuell in Tibet ist und die für das „was ich tue, bedroht werden könnte“. Allerdings gebe es genug Tibeterinnen und Tibeter, bei denen es ganz anders ist. Das sei eine Entscheidung, die man hier traurigerweise treffen müsse: Möchte man in der Öffentlichkeit stehen und seine Familie und Verwandte, die man in Tibet vielleicht noch hat, damit in Gefahr bringen beziehungsweise nimmt man sich damit auch die Chance, jemals auch nach Tibet zu reisen? „Die Überwachung durch China, merken wir, ist auch hier gegeben. Es ist jetzt egal, ob man bei Demonstrationen vom Team der chinesischen Botschaft fotografiert wird, oder ob versucht wird, irgendwie an die Telefondaten ranzukommen. Manche Menschen haben auch direkte Einschüchterungsmethoden erlebt. Was auch regelmäßig stattfindet, ist, dass wenn Menschen hier etwa an Demonstrationen teilnehmen, ihre Angehörigen in Tibet einen Besuch von der Bezirkspolizei bekommen, die sie darauf hinweisen, dass beispielsweise ihre Tochter oder der Bruder im Ausland gegen das System arbeitet. Und dann bekommt man darüber unterschwellig eine Nachricht, dass man das doch sein lassen soll“, ergänzt sie.

Demütigung durch chinesische Touristinnen und Touristen

Die tibetische Kultur, die in China als rückständig angesehen wird, erlebt auf Social Media gerade einen Hype – nur nicht so, wie sie wirklich ist. Tibet sei definitiv eines der beliebtesten Reiseziele von Chinesinnen und Chinesen. „Da ist es ein großer Trend geworden, dass Chinesinnen und Chinesen sich die tibetische Tracht anziehen, sich etwas schmutzig schminken, und die Haare ein bisschen wuschelig machen, eine Gebetsmühle in die Hand nehmen, und dann an Tempeln wie in Lhasa vor dem Jokhang oder vor dem Potala-Palast stehen und sich fotografieren lassen. Die Art und Weise wie Tibeter dabei imitiert werden, ist wirklich demütigend“, beschreibt Tenzyn Zöchbauer ihre Gefühle. Dabei ginge es gar nicht darum, die tibetische Kultur hochleben zu lassen oder sie wertzuschätzen. So ist es für Tibeterinnen und Tibeter ein Muss, den Jokhang-Tempel in einer bestimmten Richtung zu umkreisen. Die chinesischen Touristen laufen absichtlich in die andere Richtung, um zu zeigen, dass ihnen die Kultur nichts bedeute. Mit diesen touristischen-Fotos versuche China, nach außen eine heile Welt zu kommunizieren.

Sensibilisierung in der Bevölkerung hierzulande wächst

Den Beschluss der Universität Erlangen-Nürnberg, keine chinesischen Studenten, die mit einem staatlichen Stipendium kommen, mehr aufzunehmen, findet die Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland e.V. einen „wirklich wichtigen und richtigen Schritt. Die Überwachung, die hier von den Studierenden per Vertrag gefordert wird und stattfindet, vor allem innerhalb der Universitäten, ist einfach fahrlässig. Dazu gehören auch die Konfuzius-Institute, die an den Universitäten angegliedert sind, direkte Zugänge und Einfluss darauf haben, wie junge Menschen in Deutschland über China denken oder was wir hier als China-Kompetenz definieren. Da fordern wir von der deutschen Regierung auf jeden Fall einen realistischeren und differenzierteren Blickwinkel, was für Konsequenzen solche Kooperationen haben können. Überwachung, Spionage, Einschüchterungen, dafür geben wir den Nährboden, wenn man so etwas einfach zulässt. Wir sind auf jeden Fall dankbar, dass durch die Erarbeitung einer China-Strategie der Bundesregierung ein gewisser Schritt getan wurde. Man muss leider aber auch klar sagen, dass diese nicht mehr so konsequent ist, wie sie es ursprünglich mal war, und Menschenrechte nicht mehr im Zentrum stehen. Man kann sehen, wie diese nach der Überarbeitung des Kanzleramts weichgespült wurde. Die Bundesregierung betont vermehrt, dass die Volksrepublik China als Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale eingestuft wird. Es ist essenziell, dass hier klare Maßnahmen erarbeitet werden, um die vorhandene Abhängigkeit gegenüber China zu minimieren. Der Verkauf von Teilen des Hamburger Hafens oder einer Chip-Fabrik, bei der kritische Infrastruktur und deutsche Technologie zugänglich gemacht  werden, darf nicht im Stillen passieren. Wir merken in unserem Alltag, dass wir inzwischen von den chinesischen Märkten sehr abhängig sind. Umgekehrt ist Deutschland aber immer noch Chinas wichtigster und größter Handelspartner. Und deswegen ist es auch für die Kommunistische Partei nicht uninteressant, was wir sagen, oder wie die deutsche Politik reagiert. Ganz egal, ob es wirtschaftlich, politisch oder menschenrechtlich ist. Das eine auszuschließen und sich nur auf ein Feld zu konzentrieren, um dann wegsehen zu können, wenn sich die andere Situation verschlechtert, das können wir heutzutage einfach nicht mehr zulassen“, sagt sie. Sie glaube schon, dass ein gewisses Bewusstsein und ein Umdenken in der Gesellschaft hier stattfinden. Aber es gebe einige Entscheidungsträger, die hier ganz wichtig seien, zu überzeugen. Und deren Haltung gefragt sei. Leider hätten Bundeskanzler Olaf Scholz und die zwölfköpfige Wirtschaftsdelegation „ihre erste Amtsreise nach China, soweit wir es beurteilen können, nicht wirklich genutzt, um auf die verheerende Menschenrechtslage aufmerksam zu machen“, bedauert die Geschäftsführerin der Tibet Initiative Deutschland e.V.

Filmauswahl zum Thema Tibet:

  • Die Wiederkehr – Sem Dhul (2021):
    Der Abenteuerfilm beschäftigt sich mit dem Einfluss des chinesischen Regimes in Tibet und zeigt dessen dramatische Einflussnahme auf das wirtschaftliche und persönliche Leben in Deutschland. Gedreht unter anderem an Originalschauplätzen in Klein Tibet.

  • My Reincarnation – Wiederkehr (2011):
    Dokumentarfilm über die Reinkarnation eines tibetanischen Würdenträgers.

  • Tibet – Chronik einer Tragödie (2008)
    Dokumentarfilm über den Dalai Lama und Tibet.

  • Rad der Zeit (2003) Dokumentation
    Werner Herzog reist für seine Dokumentation über den Buddhismus nach Tibet und nimmt an einer Kalachakra-Zeremonie teil. Er wagte dies, obwohl unter der chinesischen Besetzung in Tibet filmen strengstens verboten ist.

  • Windhorse (1998)
    Tibetische Kinder werden Zeugen des Mordes an ihrem Opa durch die Chinesen. In der Folge lernen sie, wie die chinesische Regierung ihr Leben beeinflusst.

  • Sieben Jahre in Tibet (1997)
    Ein Film über den österreichischen Bergsteiger Heinrich Harrer auf seinem Weg nach Tibet und über seine Freundschaft mit dem Dalai Lama

  • Kundun (1997):
    Ein kleiner Junge wird zum Dalai Lama, dem geistigen Oberhaupt der Tibeter berufen. Dann besetzen die Chinesen das Land. Dem Dalai Lama drohen Folter, Verschleppung und Krieg.